Kapitel 17
SONTAG, 3. FEBRUAR 1902 – 14 UHR
Gefolgt von Bragg, war Hart hoch erhobenen Hauptes in Braggs Büro marschiert. Als Bragg die Tür hinter sich geschlossen hatte, hatte sich sein Halbbruder in dem spartanisch eingerichteten Zimmer umgesehen. Er erblickte zwei Schreibtische, auf denen stapelweise Akten und Mappen sowie Bücher und Zeitschriften lagen. Auf Braggs Schreibtisch stand ein Telefon, dahinter ein Drehstuhl mit Rattanlehne und davor zwei abgenutzte, schäbige Stühle, die für Besucher bestimmt waren. Hart warf Bragg einen Blick zu, verkniff sich aber den wenig schmeichelhaften Kommentar, der ihm auf der Zunge lag.
Bragg steuerte auf seinen Schreibtisch zu, setzte sich aber nicht. Die beiden Männer standen schweigend da und sahen sich an. Aufgrund der eisigen Temperaturen war das einzige Fenster des Zimmers geschlossen, weshalb – anders als normalerweise – kein Straßenlärm zu hören war.
»Warum das falsche Alibi?«, fragte Bragg schließlich und durchschnitt damit die Stille.
»Warum nicht?« Hart lächelte und zuckte mit den Schultern. Er hatte offenbar nicht vor, seinem Halbbruder auch nur im Mindesten entgegenzukommen.
»Darf ich annehmen, dass es dein Wunsch war, die Untersuchung des Mordes an deinem Vater so schwierig wie nur eben möglich zu gestalten? Oder versuchst du einfach, mir das Leben schwer zu machen – so wie immer?«, fuhr Bragg gelassen fort.
Hart grinste. »Hättest du mir denn geglaubt, wenn ich dir die Wahrheit gesagt hätte?«, fragte er herausfordernd.
»Nein.«
»Das dachte ich mir schon.« Hart trat auf das zerkratzte Holzsims über dem Kamin zu. Es hätte dringend eine gründliche Politur mit Bienenwachs benötigt. Er nahm eine gerahmte Fotografie herunter, die Rick mit einer wunderschönen rothaarigen Frau, zwei Jungen und einem kleinen Mädchen zeigte. Alle lächelten. Es handelte sich um Ricks Halbschwester, Lucy Savage, und ihre Kinder.
Hart wusste, dass Bragg Lucy als seine Schwester betrachtete, doch das war sie nicht, denn in ihren Adern floss nicht das gleiche Blut.
Es standen noch andere Fotos auf dem Sims, unter anderem eines, auf dem Rick mit dem Bürgermeister von New York, Seth Lowe, zu sehen war, und ein anderes, das ihn zusammen mit Theodore Roosevelt auf den Stufen vor einem Regierungsgebäude zeigte. Hart fragte sich, wo wohl die restlichen Familienfotos sein mochten. Zweifellos besaß Rick Dutzende.
Bragg nahm eine dünne Aktenmappe von seinem Schreibtisch. »Deine Behauptung, dass du so viele Stunden allein in deiner Villa verbracht hast, wird vor keinem Gericht der Welt standhalten. Ein guter Staatsanwalt könnte ein solches Alibi sehr rasch gegen dich verwenden.«
»Das dachte ich mir bereits«, sagte Hart. »Wobei du wohl kaum eine Träne vergießen würdest, wenn ich hinter Gittern landen sollte.«
Bragg musterte ihn eingehend. »Falls du schuldig bist, gewiss nicht, Calder.«
»Und wenn ich es nicht bin?«
»Wenn du nicht der Mörder bist, so werde ich ihn finden.«
»Welch eine Entschlossenheit!«, spottete Hart. »Der gute Bruder prescht wieder einmal auf seinem weißen Ross davon, um für Freiheit und Gerechtigkeit zu kämpfen.«
Braggs Gesicht nahm einen angespannten Ausdruck an. Er trat auf seinen Bruder zu, bis sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. Bragg war ein paar Zentimeter größer und etwas kräftiger als Hart, seine Schultern waren breiter. »Warum in Gottes Namen hast du das Dienstpersonal an jenem Abend weggeschickt?«
»Mir war danach«, entgegnete Hart leichthin.
Bragg starrte ihn an. »Ich weiß, wie groß dein Hass auf Randall gewesen ist; das war dein ganzes Leben lang so. Ich war immerhin dabei – oder hast du das schon vergessen?«, fragte er leise und nicht sehr freundlich.
Hart weigerte sich, jemals über die Zeit ihrer Kindheit vor Lilys Tod nachzudenken. »Ja, Rick, ich habe meinen Vater gehasst. Das würde ich sogar vor Gericht unter Eid bestätigen«, gab Hart zurück. »Ts ts ts. Was für ein schrecklicher Mensch ich doch bin.« Hart gab vor zu erschauern und lachte dann.
»Spar dir das Getue für ein interessiertes Publikum auf!«, fuhr ihn Bragg an. »Die eigentliche Frage lautet, hast du es nun getan oder nicht?«
»Ich werde mich nicht wiederholen.«
»Warum also die Lüge? Darauf hätte ich gern eine Antwort, Calder.«
»Ich habe nun einmal einen erstaunlichen Selbsterhaltungstrieb«, erwiderte Hart.
»Ja, den hast du immer schon gehabt.« Bragg seufzte. »Ehrlich gesagt, halte ich dich für viel zu klug, um Randall von hinten zu erschießen. Du magst überaus hitzköpfig und leidenschaftlich sein, aber du bist auch einer der intelligentesten Menschen, die ich kenne.«
»Danke für die Blumen«, sagte Hart mit einem ironischen Unterton. Ausnahmsweise stimmte er Bragg einmal zu.
»Du hast deinen Vater schon so viele Jahre gehasst, warum solltest du ihn also ausgerechnet jetzt umbringen? Mir fehlt einfach das Motiv«, sagte Bragg.
Hart ließ ihn nicht aus den Augen, erwiderte aber nichts.
»Ach, jetzt komm schon! Oder verachtest du mich etwa so sehr, dass du deine Gedanken nicht mit mir teilen willst?«
Hart lächelte. »Es ist nicht meine Aufgabe, deine Arbeit zu erledigen. Immerhin hast du sie freiwillig übernommen.« Er schüttelte den Kopf. »Auch wenn wir zusammen aufgewachsen sind, so versetzen mich deine Ambitionen doch immer wieder aufs Neue in Erstaunen. Wieso um alles in der Welt sollte jemand freiwillig die Stelle des Polizeichefs in dieser Stadt haben wollen?«
»Ich bin der Polizei-Commissioner dieser Stadt – einen Polizeichef muss ich erst noch ernennen. Und irgendjemand muss doch endlich etwas gegen die Korruption in den Reihen der Polizei unternehmen.« Bragg lehnte sich mit der Hüfte gegen den Schreibtischrand. »Aber ich erwarte nicht, dass du verstehst, was mich motiviert.«
»Wird es denn mit der Zeit nicht langweilig, immer der Gute zu sein?«
»Sag mir lieber, wer Randall gern tot gesehen hätte.«
»Abgesehen von mir? Keine Ahnung. Ich hatte nichts mit dem Mann zu schaffen, wie du ja weißt.«
»Aber du hast am Dienstagabend mit ihm gegessen, nicht wahr? Machte er da einen aufgeregten, vielleicht sogar verängstigten Eindruck?«
»Nein.«
»Warum plötzlich dieses freundschaftliche Gebaren? Wann hattest du dich das letzte Mal mit deinem Vater getroffen?«
»Vor diesem Abend? Noch nie. Er ist auf mich zugekommen, und ich muss zugeben, dass ich ein wenig neugierig war.« In Wahrheit war es mehr als Neugierde gewesen – lächerlicherweise hatte sich der kleine Junge in ihm unglaublich darauf gefreut, sich mit seinem Vater zu treffen –, wenn auch nur für ein simples Abendessen. Bis dann der wahre Grund für die Einladung ans Licht gekommen war.
»Was hat er denn gewollt?«, fragte Bragg. »Hat er es plötzlich bedauert, dass er nie Interesse gezeigt hat, dich besser kennen zu lernen?«
»Er wollte Geld. Ich habe abgelehnt.« Hart zuckte mit den Schultern.
»Einfach so?«
»Einfach so. Es war sogar recht unterhaltsam, ihn so zu Kreuze kriechen zu sehen.«
Bragg straffte die Schultern. »Ich dachte, du hättest dich inzwischen vielleicht ein bisschen geändert. Aber offensichtlich ist das nicht der Fall. Du warst als Junge schon grausam und schwierig und bist es immer noch. Ist dir noch nie in den Sinn gekommen, dass es langsam an der Zeit ist, erwachsen zu werden?«
Hart schob sein Gesicht nach vorn, bis seine Nasenspitze beinahe die von Bragg berührte. »Maß dir bloß nicht an, über mich zu urteilen. Du bist doch nichts weiter als ein Meister der Verdrängung, der seine Gefühle unterdrückt, um den Moralvorstellungen der Gesellschaft zu entsprechen. Und alles nur, um Rathe und Grace zu gefallen. Was für ein Heuchler du doch bist! Ich bin wenigstens ehrlich. Ich habe Randall gehasst. Ich lebe für die Lust und das Vergnügen. Was sich übrigens hervorragend mit Geld kaufen lässt, wovon ich ja reichlich habe. Ich muss mich nicht verstellen!«
»Ach, hör doch auf! Du sehnst dich doch nur verzweifelt nach Aufmerksamkeit, und deshalb wirst du auch niemals mit diesem verabscheuungswürdigen Benehmen aufhören. Und bisher hat es ja auch immer funktioniert!«, rief Bragg. »Mein Vater hat wegen dir graue Haare bekommen, und Grace hat sich wegen dir nachts in den Schlaf geweint. Du hattest unsere Aufmerksamkeit rund um die Uhr, bis du mit sechzehn weggelaufen bist, um Randall zu suchen. Und bis zum Freitagabend ist es dir dank deines extravaganten und maßlosen Treibens gelungen, beinahe die ganze Stadt auf dich aufmerksam zu machen. Aber erst der Mord an Randall hat dich wirklich ins Rampenlicht gerückt. Und wenn du nicht einen so klugen Kopf hättest, wäre ich geneigt zu glauben, dass dies der Höhepunkt deines verzweifelten Heischens nach Aufmerksamkeit ist.«
Hart zitterte vor Wut. »Ich dachte, ich hätte mich klar ausgedrückt. Ich sagte, du sollst dir nicht anmaßen, über mich zu urteilen.« Er verspürte das Bedürfnis, seinem Bruder die Nase einzuschlagen, und ballte unwillkürlich die Hände zu Fäusten. »Dann hör auf, dich wie ein verzogenes Kind zu benehmen, das ständig sämtliche Regeln bricht. Verzogenen Kindern zieht man die Ohren lang oder vertrimmt ihnen den Allerwertesten. Aber leider ist es Lily nie eingefallen, dich zu bestrafen, und jetzt haben wir das Malheur. Du bist einfach unverbesserlich.«
»Nenne in meiner Gegenwart nie wieder ihren Namen!«, brüllte Hart.
»Sie war auch meine Mutter, und es gibt keinen Grund, warum wir die Erinnerung an sie begraben sollten – sie war eine gute Mutter, verflixt noch mal!«, erwiderte Bragg mit immer lauter werdender Stimme.
»Ach, lass mich doch in Ruhe mit dem ganzen Mist!« Hart marschierte auf die Tür zu. Am liebsten hätte er seinen Bruder erwürgt. Er hasste es, an seine Mutter zu denken. So schön, so erschöpft ... voller Schmerz ... dem Tode nah.
Bragg stürzte hinter ihm her und packte ihn an der Schulter. »Wir sind noch nicht fertig! Ich bin mir sicher, dass du etwas weißt, was du mir verschweigst.«
Hart erstarrte, drehte sich aber nicht um. »Nimm deine verdammte Hand da weg, bevor ich sie dir breche.« Es war ihm bitterernst damit. Er spürte, wie seine Selbstbeherrschung allmählich zu bröckeln begann.
Bragg ließ ihn los. »Du weißt, wer Randall umgebracht hat, nicht wahr?«
Er wandte sich langsam um. »Wenn es so wäre, würde ich es dir bestimmt als Letztem erzählen.«
»Warum? Weil du den Mörder schützt? Oder weil du mich so sehr hasst?«
»Such es dir aus. Es könnte durchaus beides zutreffen«, zischte Hart.
»Wenn du weißt, wer Randall getötet hat, verlange ich, dass du es mir sagst, Calder.«
Hart lächelte verkrampft. »Ich weiß gar nichts. Und jetzt noch viel Spaß bei der Arbeit. Sie passt zu dir – Rick, der König der Bullen! «
»Vielleicht würde dir eine Nacht im Stadtgefängnis gut tun.« Hart erstarrte. »Nur zu, versuch es doch«, erwiderte er. »Meine Anwälte hätten mich spätestens in einer Stunde wieder da rausgeholt – falls du es überhaupt wagen solltest, Anzeige gegen mich zu erstatten.«
»Vielleicht sollte ich deine Anwälte tatsächlich einmal auf die Probe stellen, um zu prüfen, wie fähig sie sind«, sagte Bragg. Die beiden Männer starrten einander an. Da war sie wieder, die alte Rivalität, die schon immer zwischen ihnen existiert hatte, solange Hart denken konnte. Die Feindseligkeit, das Bedürfnis zu beweisen, dass er selbst stärker, besser, klüger als sein Bruder war. Als sie noch Kinder waren, hatten ihre Kämpfe zumeist unentschieden geendet. So oft, wie Lily Bragg von Harts Rücken heruntergezerrt hatte, hatte sie Hart von dem seines älteren Bruders heruntergezerrt. Einmal hatte Calder Rick im Kampf sogar ein Stück von seinem Ohr abgebissen. Die Narbe – wenn auch klein – war immer noch zu sehen. »Tu's doch!«, gab Hart jetzt zurück, der diese Auseinandersetzung genoss.
Rick blickte ihn schweigend an, doch dieses Mal nahm er den Fehdehandschuh nicht auf, sondern schüttelte nur angewidert den Kopf.
In diesem Moment war die Tür aufgeflogen und hatte Hart im Rücken getroffen. Die Brüder starrten Francesca verblüfft an. »Bitte, hören Sie auf!«, rief sie aufgeregt.
Die Überraschung wich aus Braggs Gesicht und verwandelte sich in Verdruss.
Francesca errötete. »Bitte – Sie sind doch Brüder!« Sie zögerte einen Moment lang und spürte, dass ihr die Tränen in die Augen traten. »Das ist doch einfach schrecklich«, fuhr sie schließlich fort, als sich keiner der Männer rührte oder einen Ton sagte. »Denken Sie doch nur einmal daran, was Sie damit Ihren Eltern, Rathe und Grace, antun.«
Hart gab ein verächtliches Schnauben von sich. »Ich habe keine Eltern«, erwiderte er. »Meine Eltern sind tot. Rathe und Grace sind seine Eltern.«
»Sie haben sich nichts sehnlicher gewünscht, als auch deine zu werden, aber das hast du ja nicht zugelassen«, sagte Bragg nun wieder mit ruhiger Stimme.
»Meine Anwälte werden sich freuen, von dir zu hören«, gab Hart mit finsterem Blick zurück. Er nickte Francesca zu und verließ mit großen Schritten den Raum.
Francesca erschauerte.
Bragg wandte sich ab, und sie hörte, wie er einen tiefen Seufzer ausstieß. Ohne darüber nachzudenken, was sie tat, trat sie auf ihn zu und legte ihm ihre Hand auf die Schulter. Sie spürte, dass seine Muskeln angespannt waren. »Es tut mir ja so Leid, Bragg«, flüsterte sie.
Er seufzte erneut. »Das weiß ich doch. Aber er ist nun einmal ein unmöglicher Mensch.« Dann wandte er sich abrupt zu ihr um. »Jetzt hören Sie mir einmal ganz genau zu, Francesca. Ich kenne Sie inzwischen gut genug, um zu wissen, dass Sie meinen, ständig allen und jedem helfen zu müssen, und ich kenne auch Calder, der es liebt, Menschen zu verführen. Glauben Sie mir, Calder ist nicht zu helfen. Die Dämonen, die ihn quälen, hat er selbst erschaffen. Sparen Sie also Ihr Mitleid für jemanden auf, dem es etwas nützt.«
Francesca musterte ihn kritisch. »Aber es besteht doch immer Hoffnung und außerdem ...« Sie brach ab.
»Und außerdem was? Außerdem ist er kein schlechter Mensch, wollten Sie sagen? Doch das ist er!«, rief Bragg.
Tatsächlich hatte er ihr die Worte aus dem Mund genommen. »Ich glaube, dass Sie Recht haben. Ich glaube, er sehnt sich nach Aufmerksamkeit, und die einzige Möglichkeit, sie zu erlangen, besteht in seinen Augen darin, den Bösen zu spielen.«
»Ich warne Sie, Francesca, er hat eine grausame Seite. Immerhin bin ich mit ihm aufgewachsen und muss es wissen. Großer Gott, er war mein kleiner Bruder! Unsere Mutter war immer so müde. Als kleines Kind von vier oder fünf Jahren war ich schon verantwortlich für Calder. Ich weiß noch, dass ich mir ständig Sorgen um ihn gemacht habe, ihm andauernd aus der Klemme helfen, ihn vor Schaden bewahren musste. Einmal wäre er fast von einem Fuhrwerk über den Haufen gefahren worden, wenn ich nicht auf die Straße gelaufen wäre und ihn fortgezerrt hätte. Ich weiß noch, wie er eines Tages eine Geldbörse stahl, die ich an Ort und Stelle zurücklegte, bevor jemand den Diebstahl bemerkte. Glauben Sie mir, er hat sich ständig in irgendwelche Schwierigkeiten hineingeritten.« Bragg wandte sich ab, trat vor den erkalteten Kamin und starrte hinein. Offenbar hatte sich niemand die Mühe gemacht, das Feuer anzuzünden. »Ich weiß noch, dass Lily mir erzählt hat, wie schwer Calders Geburt gewesen ist und dass sie danach mehrere Wochen im Bett liegen musste«, murmelte er. »Ich war gerade einmal zwei Jahre alt, als er auf die Welt kam, aber sie muss mir wohl gezeigt haben, wie man ihn hält und ihm die Flasche gibt. Sie konnte ihn nicht stillen«, fügte er mit ernstem Blick hinzu, als ihn die längst vergangenen Erinnerungen einholten.
»Er ist also zwei Jahre jünger als Sie?«, fragte Francesca.
»Ja, zwei Jahre und ein paar Monate.«
»Hatte Ihre Mutter noch das Verhältnis mit Randall, als Calder geboren wurde?«
»Nein. Es war nur eine kurze Affäre gewesen.« Bragg sah sie mit festem Blick an. »Und als ihr klar wurde, dass sie sterben würde, da hat sie meinen Vater und auch Randall davon in Kenntnis gesetzt. Rathe ist gekommen, Randall nicht.«
»Der arme Calder!«, rief Francesca und ergriff Braggs Hand. In diesem Moment schien es die natürlichste Sache der Welt zu sein, dass seine große Hand ihre schmale umschloss. »Wann war das?«, fragte sie.
»Sechsundachtzig«, sagte er, zog seine Hand weg und trat ein wenig beiseite.
Sie spürte, dass ihn die Macht der Erinnerung und der damit immer noch einhergehenden Schmerz zu überrollen drohten. »Können Sie darüber reden?«, fragte sie leise.
»Gewiss.« Er lächelte, blickte ihr aber nicht in die Augen. »Lily starb an Darmkrebs. Sie wusste schon Monate vorher, dass sie sterben würde, und auch Calder und ich wussten es. Mein Vater hatte keine Ahnung von meiner Existenz, genauso wenig wie Randall von Calders. Lily schrieb beiden einen Brief, und Rathe kam sofort vorbei. Lily hatte meinen Vater in einem Tanzlokal kennen gelernt, wo sie damals arbeitete. Sie war erst siebzehn, ein Mädchen vom Lande und neu in der Stadt. Mein Vater sorgte dafür, dass sie ihre Arbeit aufgab, und hielt sie aus – zumindest für eine Weile.« Bragg lächelte ein wenig gequält. »Rathe war ein schrecklicher Schürzenjäger, bevor er sich in Grace verliebte. Die Affäre mit meiner Mutter hatte nur einige Monate gedauert. Lily war schon als junges Mädchen sehr stolz. Sie begann wieder zu arbeiten, bis man ihr die Schwangerschaft anzusehen begann. Als ich ungefähr ein Jahr alt war, traf sie Randall, den zweiten und letzten Mann in ihrem Leben. Ich glaube, als sie zum zweiten Mal ein Kind erwartete, wurde ihr klar, dass sie eine andere Möglichkeit finden musste, um den Lebensunterhalt für sich und ihre kleine Familie zu sichern. Nach Calders Geburt arbeitete sie bis zu ihrem Tod als Näherin. Ich weiß noch, dass sie immer irgendetwas zu nähen mit nach Hause brachte und bis in die frühen Morgenstunden daran arbeitete. Oft schlief sie vor Erschöpfung an dem einzigen Tisch in unserer Wohnung bei Kerzenlicht ein.«
»Wie furchtbar!«, flüsterte Francesca. Sie stellte sich vor, wie Bragg als kleiner Junge zu diesem Tisch geschlichen war und die Kerze ausgeblasen hatte.
Er zuckte mit den Schultern. »Als Rathe den Brief erhielt, kam er sofort. Er war verheiratet und hatte bereits drei Kinder. Aber er nahm nicht nur mich auf, sondern auch Calder, als er begriff, dass Randall sich nicht um seinen Sohn kümmern würde.« Bragg sah Francesca an. »Rathe ist zu Randall gegangen und hat ihn gebeten, Calder aufzunehmen. Er ist ein guter Mensch.«
»Ich freue mich darauf, ihn – und auch seine Frau – einmal kennen zu lernen«, sagte Francesca aufrichtig.
»Das werden Sie, denn sie werden bald nach New York zurückkehren. Im Moment leben sie in Texas, wo meine Großeltern und meine Schwester mit ihrer Familie wohnen. Die beiden werden Ihnen bestimmt gefallen. Sie erinnern mich übrigens an Grace – sie ist eine ebenso eifrige Verfechterin von Reformen wie Sie und schon seit den Siebzigern eine überaus rührige Suffragette«, fügte er hinzu.
Francesca lächelte erfreut. »Oh, dann werden wir uns mit Sicherheit gut verstehen!«, rief sie. Grace Bragg hatte gewiss einige spannende Geschichten zu erzählen.
»Daran hege ich nicht den geringsten Zweifel«, erwiderte er trocken und lächelte. Er warf ihr einen, wie sie zu erkennen glaubte, liebevollen Blick zu, trat hinter seinen Schreibtisch und setzte sich. Francesca wusste, dass seine Gedanken zu Calder und dem Mordfall zurückkehrten.
Vorsichtig nahm sie auf einem der beiden Stühle vor seinem Schreibtisch Platz. Sie dachte darüber nach, wie schmerzvoll es für Bragg gewesen sein musste, als seine Mutter starb und er anschließend sofort zu wildfremden Menschen ziehen musste. Bragg musste zu jener Zeit ungefähr zwölf und Calder zehn Jahre alt gewesen sein. Francesca ging durch den Kopf, dass andere Brüder unter solchen Umständen erst recht zusammengehalten hätten, aber bei Bragg und Hart schien das leider nicht der Fall gewesen zu sein.
Sie bemerkte, dass Bragg sie beobachtete. »Sie müssen mich nicht so ansehen«, sagte er leise. »Es gibt keinen Grund, Mitleid zu haben, schließlich hat ja alles doch noch ein gutes Ende genommen. Wenn Lily nicht gestorben wäre, weiß ich nicht, was für ein Mann aus mir geworden wäre, Francesca. Und das Gleiche gilt für Calder.«
Sie nickte. »Aber es zerreißt mir das Herz, wenn ich daran denke, und das wird sich auch niemals ändern.«
Sein Blick wanderte über ihr Gesicht hinweg. »Und das macht Sie zu einem ganz besonderen Menschen«, sagte er.
Francesca schlug das Herz bis zum Hals. »Bin ich wirklich etwas Besonderes, Bragg?«
Er blickte zur Seite, und wieder sah sie diesen kleinen, zuckenden Muskel in seiner Wange. Offenbar waren ihm die Worte herausgerutscht, und ganz offenbar bereute er sie bereits. »Sie wissen doch, dass es so ist«, sagte er schließlich, während er weiterhin ihrem Blick auswich.
Sie biss sich auf die Lippe. Erneut kamen ihr die Unheil verkündenden Worte in den Sinn, die er am Abend zuvor gesagt hatte. Doch sie wollte jetzt nicht darüber nachdenken, und genauso wenig darüber, dass Hart behauptet hatte, dass ihre Liebe zu Bragg unter einem schlechten Stern stehe. »Bin ich denn auch etwas Besonderes für Sie?«, fragte sie.
Er sprang auf und blickte sie an. »Francesca ...«
Sie erhob sich ebenfalls. »Sie haben mich gestern Abend geküsst. Zum zweiten Mal.«
Es dauerte einen Moment, bevor er seine Stimme fand. »Das habe ich nicht vergessen, das können Sie mir glauben.«
Über diese Antwort hätte sich Francesca wohl gefreut, wäre da nicht sein grimmiger Gesichtsausdruck gewesen. »Was ist los, Bragg? Was wollen Sie mir sagen? Warum küssen Sie mich, als könnten Sie nicht ohne mich leben, und sehen mich dann an, als stünde die Welt kurz vor dem Untergang?«
»Weil ich Ihnen nicht wehtun möchte.«
Francesca klammerte sich unwillkürlich an der Schreibtischkante fest. Sie fühlte sich benommen. »Etwas steht zwischen uns, ist es nicht so?«, fragte sie heiser.
»Ja.«
Sie hatte das Gefühl, einer Ohnmacht nahe zu sein. »Sie sind gebunden«, flüsterte sie fassungslos.
»Ja.«
»Es gibt also eine andere Frau.« Plötzlich schien es ihr, als würde die ganze Welt zusammenbrechen.
»Francesca – ich wollte es Ihnen nicht auf diese Weise sagen. Ich wollte überhaupt nicht, dass so etwas geschieht.«
»Es gibt also eine andere Frau?«, wiederholte sie ungläubig. »Ja.«
Sie starrte ihn schockiert an.
»Aber ... ich verstehe das nicht«, hörte sie sich sagen. Dabei verstand sie alles ganz genau. Sie liebte Rick Bragg, hatte sich schon bei ihrer ersten Begegnung in ihn verliebt. Und er liebte sie, da war sie sich sicher.
Nein, sie verstand es doch nicht.
Irgendwelche Abmachungen ließen sich doch rückgängig machen!
Und er liebte gewiss keine andere!
Bragg trat plötzlich hinter dem Schreibtisch hervor und legte seinen Arm um ihre Taille. »Bitte setzen Sie sich wieder, Francesca«, sagte er.
Sie blickte in seine bernsteinfarbenen Augen mit dem goldenen Schimmer und spürte, dass sie diesem Mann vollkommen vertraute. »Sagen Sie es mir«, flüsterte sie und ließ sich gegen ihn sinken.
»Ich bin verheiratet«, sagte er.